Die Ausgestoßenen
Text und Fotos von Eva Gruberová
Für einen
Moment wirkt Tibor Gábor so, als ob auch er jede Hoffnung verloren hätte. „Wir
Roma benehmen uns manchmal wie Kinder“, seufzt er und schüttelt den Kopf. Dann
legt er wieder los, redet und gestikuliert, doch die Mienen seiner Zuschauer,
die sich vor dem Gemeindehaus um ihn herum versammelt haben, bleiben finster.
Seit einer halben Stunde versucht der 49-jährige Stadtrat die aufgebrachten
Bewohner der Hrebendova Straße 34 und 36 zu einer Protestaktion zu
überreden. Anfang des Jahres bekamen sie Briefe von der städtischen
Wohnungsgenossenschaft. Sie teilte ihnen mit, dass ihr Wohnblock bis
Jahresende abgerissen wird. Die Statik des Gebäudes sei so stark beschädigt, dass
es einzustürzen drohe.
Von einer Ersatzunterkunft steht in den Briefen kein Wort. Man müsse
etwas unternehmen, bevor es zu spät ist, fordert Gabor und schlägt eine
Petition an den Stadtrat vor. Doch seine flehentlichen Worte verhallen. Die Zuhörer reagieren nicht, sie sind verzweifelt. „Wo soll ich jetzt hingehen?“, fragt die 54-jährige Zlatica
Husárová und wischt sich die Tränen ab. „Seit 31 Jahren wohne ich hier, meine
Tochter bekam erst vor zwei Monaten ein Kind.“ In der Vier-Zimmer-Wohnung von
Sona Pohlodková drängen sich auf 70 Quadratmetern 22 Familienmitglieder. „Ich
bezahlte stets meine Rechnungen. Warum setzt man mich jetzt auf die Straße?“
Kein
Bewohner von Lunik IX, einer heruntergekommenen Plattenbausiedlung am
Rande der ostslowakischen Metropole Kosice, zweifelt daran, dass die Stadt ihre
Drohung ernst meint. In den vergangenen vier Jahren verschwanden bereits vier
Wohnblöcke, in jedem von ihnen lebten mindestens 300 Menschen. Wo sie heute
sind, weiß niemand genau. Fest steht, dass auf dem Gebiet der zweitgrößten
slowakischen Stadt, die 2013 den Prestige-Titel
"Kulturhauptstadt Europas" trug, vierzehn neue Roma-Siedlungen
registriert und nach und nach zwangsgeräumt worden sind. Einige Familien
verließen das Land, ein Roma-Clan mit 77 Mitgliedern, darunter Kleinkinder,
haust seit zwei Jahren in windigen Blechhütten am Fluss neben der Siedlung. Die
meisten Obdachlosen quartierten sich in die ohnehin schon überfüllten Wohnungen
ihrer Nachbarn ein.
Dezider
Gazo hat längst schon den Glauben verloren, dass sich in Lunik IX etwas ändern
könnte. Die Hälfte seines Lebens verbrachte der drahtige Mann mit ergrautem
Haar hier, kaum jemand kennt sich in dem größten slowakischen Roma-Slum besser
aus als er. Die Strategie ist ihm vertraut: Zuerst lässt die Stadtverwaltung,
Eigentümerin der meisten Wohnungen, alles verfallen, dann teilen die Beamten den
Bewohnern mit, dass sie ausziehen müssen. Bis 2011 gehörte Dezider zur
Bürgerwache, die von der Polizei abgelöst wurde. "Wir sorgten für Ordnung,
während sie nur da stehen und zusehen, wie ein paar Kriminelle die
leerstehenden Wohnungen demolieren, Fenster einschlagen und aus den
Treppenhäusern und Balkonen Betonwände mit Stahlträgern herausreißen."
Hinter all dem steht ein System, davon ist er überzeugt: "Die Stadt will uns Roma loswerden und
Lunik IX liquidieren."
Schätzungsweise
7000 Menschen wohnen heute in Lunik IX, drei- bis viermal so viele wie
ursprünglich vorgesehen. Sie alle sind Roma und fast alle arbeitslos. Die Miet-
und Wasserschulden des berüchtigten Plattenbauviertels, das nur wenige
Autominuten südwestlich vom historischen Stadtzentrum liegt, belaufen sich auf mehrere
Millionen Euro. In den meisten Wohnungen gibt es weder Strom noch Gas oder
Heizung. Wer in Lunik IX Wasser braucht, muss sich draußen in eine Warteschlange
einreihen und Eimer mitbringen. Aus der Betonwand jedes Wohnblocks ragt ein
Wasserhahn, der morgens um sieben und nachmittags um vier für jeweils eine
Stunde aufgedreht wird. Polizisten mit Hunden überwachen das demütigende
Prozedere. Wenn jemand verschläft, krank ist oder keine Lust hat, in der Kälte
draußen anzustehen, muss er seine Notdurft auf den umliegenden Feldern verrichten.
Es ist
eine stinkende Armut.
In der Luft liegt Geruch von verbranntem Gummi, Müll und
Hundekot. Aus Fenstern und Löchern in den Hauswänden steigt schwarzer Rauch,
der die Betonplatten mit einer dicken Rußschicht überzieht. Die
meisten Familien kochen auf einem kleinen Ofen, das Brennmaterial suchen sie
sich in den angrenzenden Stadtvierteln zusammen und schieben es in
vollbepackten Karren nach Hause. Die Müllcontainer in der Siedlung sind
überfüllt, hinter dem Wohnblock in der Hrebendova türmt sich eine Mühlhalde
auf. Manche Bewohner werfen ihren Abfall einfach zum Fenster hinaus. In der
Nacht kommen die Ratten. 2009 filmte der slowakische Privatsender JOJ ein Heer von Ratten, die überall hervorkrochen und in die Treppenhäuser
liefen. Auf YouTube ist das Ratten-Video zu einem Hit geworden, für die Bewohner ist es ein Albtraum: "Unsere Kinder haben abends Angst, ins Bett zu
gehen", erzählt Zlatica Husarova Tibor
Gabor, der als einziger Roma im städtischen Parlament sitzt.
"Viele
Roma sind selbst schuld an der Misere", räumt Gabor ein. Er
kennt die Mentalität der Bewohner, schließlich ist er in Lunik IX aufgewachsen.
Kriminalität, Drogen, Alkohol und Wucherei, Begleiterscheinungen eines Lebens
in Armut und ohne Perspektive, bestimmen hier den Alltag. Die Hauptschuld
sieht er jedoch bei der Stadt. "Manche Bewohner meldeten schon vor 15
Jahren, dass sie kaputte Heizungen und Dächer haben. Eine Antwort bekamen sie
nie." Schon vor einem Jahr versuchte der 49-Jährige, die Bewohner aus
ihrer Passivität herauszuholen. Mitten im Sommer, der in der Ostslowakei für
gewöhnlich sehr heiß ist, drehte die Stadt in ganz Lunik IX das Wasser ab. Die
mobilen Wassertanks reichten nicht aus, etwa 20 Kinder erkrankten an Hepatitis,
weil sie verschmutztes Wasser aus dem Fluss tranken. Steine flogen durch die Luft,
Morddrohungen wurden ausgestoßen, die Polizei musste Verstärkung anfordern.
Gabor wollte mit Lunik IX-Bewohnern und leeren Eimern zum Magistratsgebäude
marschieren. Aber niemand war dazu bereit.
Eva
Dudova, Sozialamtsleiterin der Stadt Kosice, empfängt in ihrem geräumigen Büro
im "Weißen Haus". So spottet man über das Magistrat-Gebäude schon
seit jener Zeit, als darin noch die Ostslowakische Kommunistische Partei ihren
Sitz hatte. Eva Dudova wählt ihre Worte mit Bedacht, die Vizebürgermeisterin
hat keine Zeit, der Bürgermeister ist auf einer Dienstreise, so muss sie die
"Kulturhauptstadt Europas 2013" allein vertreten. Hat sie Mitleid mit
den Roma-Kindern, die in der Hrebendova Straße leben und bald aus ihren
Wohnungen vertrieben werden? Die Beamtin blickt erstaunt auf und erzählt dann
eine Geschichte: "Vor zwei oder drei Jahren verbrannten in Lunik IX nachts
in einer Wohnung Kinder. Daran sieht man, wie sich die Eltern dort um ihre Kinder
kümmern." Die meisten Bewohner hätten Miete und Wassergebühren nicht
bezahlt, wohnten also illegal, sagt sie. Die Stadt habe daher keine
Verpflichtung, für Ersatzunterkünfte zu sorgen. "Die Situation in Lunik IX
ist sehr kompliziert."
Warum sie
das ist, zeigt ein Blick in die Geschichte. Mitte der 1970er Jahre bauten
kommunistische Stadtplaner, die Sozialbausiedlung "ABC":
"A" stand für die Armee, "B" für Sicherheit und
"C" für Zigeuner, die bis dahin verstreut in der Stadt lebten. Doch
Soldaten und Polizisten waren wenig begeistert von den "C-Nachbarn"
und zogen bald aus. Geblieben sind Roma, die bislang nur das Leben in
primitiven Hütten kannten und mit den engen Wohnungen, Einbauküchen und
Spültoiletten wenig anfangen konnten. Doch mit der Zeit lief es nicht schlecht,
bis das Jahr 1989 kam. Die Roma waren die ersten, die nach der politischen
Wende ihre Arbeit verloren und nie mehr eine gefunden haben.1995
dann noch ein Schlag: Unter dem Vorsitz des damaligen Bürgermeisters und
späteren Staatspräsidenten Rudolf Schuster entschied der Stadtrat, dass nach
Lunik IX künftig "alle Mietschuldner, Obdachlose und unangepasste
Bürger" umgesiedelt werden. Gemeint waren vor allem Roma aus dem
historischen Stadtzentrum, das der frühere KP-Chef Schuster gerade für viel Geld restaurieren ließ. Die Zahl der Lunik IX-Bewohner verdoppelte sich, die
Arbeitslosigkeit stieg auf die heutigen 98 Prozent. Aus einem sozialen
Experiment entwickelte sich eines der größten Armutsghettos Europas.
Die Fußgängermeile im historischen
Zentrum säumen Straßencafés und moderne Geschäfte, barocke Adelspaläste und
Bürgerhäuser. Das alles überragt der Elisabeth-Dom, die größte gotische Kirche des Landes. Bis 1918
gehörte Kosice zu Ungarn, war eine der reichsten Städte des Königreichs.
Ungarn, Slowaken, Juden und Tschechen prägten damals die Stadt, die für kurze
Zeit sogar die Hauptstadt der Tschechoslowakei war. Am 5. April 1945 verkündete
hier Edvard Benes, gerade aus dem Londoner Exil zurückgekehrt, das
"Kaschauer Regierungsprogramm." Kosice präsentierte sich oft
weltoffener als viele andere Städte im kommunistischen Europa. 1979
unterschrieb der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher mit
seinem tschechoslowakischen Kollegen die
Städtepartnerschaft zwischen Kosice und Wuppertal. Doch von dem
europäischen Geist, den der hier geborene Schriftsteller Sandor Marai in seinen
Romanen beschrieb, blieb nicht viel übrig. 25 Jahre nach der politischen Wende
ist jeder Fünfte in der Region arbeitslos.
Die einst blühende Stadt ist in
Vergessenheit geraten - auch der Titel der
"Europäische Kulturhauptstadt" ändert nicht viel daran, obwohl
die Stadt ein aufwendiges Kulturprogramm vorbereitet und für die Investitionen
60 Millionen Euro von der EU kassiert hat. Die erhofften Touristenströme
blieben aus, in den meisten ausländischen Medienberichten wurde stattdessen
über Lunik IX berichtet.
Genutzt
hat es bislang nicht. 450 000 Roma leben in der Slowakei, einem Land mit
5,4 Millionen Einwohnern. Heute, 25 Jahre nach der politischen Wende, ist die Lage der
zweitgrößten Minderheit nach den Ungarn verheerend. Sogar die wenigen, die es in
die Mittelschicht schafften, stürzen ab. Die meisten Roma leben im Osten des
Landes, in Städten und isolierten Siedlungen, von denen 60 Prozent keine
Wasserleitung haben. Jeder zehnte Rom haust in einer Blechhütte oder einem
baufälligen Holzhaus. Die Ablehnung der Roma ist in der slowakischen
Gesellschaft tief verwurzelt, sie reicht von völliger Gleichgültigkeit über
Ausgrenzung und Diskriminierung bis zu offenem Hass. Im Juni 2013
wurden in der ostslowakischen Kleinstadt Moldava nad Bodvou 30 Roma
wahllos zusammengeschlagen. Ein sechs Monate altes Baby musste Medienberichten
zufolge im Krankenhaus behandelt werden, weil es Tränengas eingeatmet hatte.
Der Innenminister Robert Kalinak lobte demonstrativ die Arbeit der Polizei.
2012 gaben 58 Prozent der für Eurobarometer befragten Slowaken an, sie hätten
"ein unangenehmes Gefühl" , wenn ihre Kinder zusammen mit
Roma-Kindern unterrichtet würden - in keinem anderen EU-Land war die Ablehnung
stärker. Die Spaltung der Gesellschaft beginnt im Kindesalter. Nach wie vor
werden die Kinder der slowakischen Roma vielerorts in eigene Klassen oder
Sonderschulen abgeschoben, kritisieren Menschenrechtsorganisationen.
Das
Vorurteil von den "arbeitsscheuen Zigeunern", die das staatliche
Sozialsystem ausnutzten, ist landesweit verbreitet. "Freilich gibt es auch
solche Roma", sagt Katarina Krajnikova, "das hat jedoch viele
Ursachen." Die junge Sozialarbeiterin sitzt zur Mittagspause mit ihren Kollegen
in einem fensterlosen Raum im Erdgeschoss des Gemeindehauses von Lunik IX.
Ganze sechs Sozialarbeiter beschäftigt die Stadt Kosice in dem sozialen
Brennpunkt - für mehr Personal, hatte Eva Dudova am Vortag erklärt, reiche
leider das Geld nicht. Die verglaste Bürotür ist verschlossen, von außen
schützt sie ein stabiles Eisengitter. Die Siedlung gilt als gefährlich.
"Das Leben in Lunik IX bestimmt eine tiefe Resignation", sagt
Katarína Krajnikova. "Die Roma haben keine Möglichkeit, ihr Leben zu ändern.
Auch wenn man es ihnen nicht offen sagt, sind sie bei der Arbeitssuche im
Nachteil, weil sie eine dunkle Hautfarbe haben und in Lunik IX wohnen".
Katarina Krajnikova betreut auch die Bewohner eines Wohnblocks, der abgerissen
werden soll. Sie zögert, dann sagt sie,
wohlwissend, dass sie damit ihren Arbeitgeber kritisiert: „Es ist nicht gut,
wenn Familien, vor allem solche, die kleine Kinder haben, plötzlich auf der
Straße stehen. Man sollte ihnen eine Ersatzunterkunft anbieten, wenigstens
vorübergehend."
Anna
Mandulová arbeitet seit 15 Jahren in Lunik IX. Sie ist die stellvertretende
Leiterin des städtischen Kindergartens, einem Renomee-Projekt der Stadt. Der
graue Gebäudekomplex, von dessen Fassade der Putz abbröckelt, ähnelt einem
Hochsicherheitstrakt. Alle Türe sind verschlossen, die Fenster vergittert, eine
Türglocke gibt es nicht. "Ohne diese Sicherheitsmaßnahmen hätten manche
Jugendliche längst schon alles demoliert", erklärt die 50-Jährige. Bei den
Eltern ist der Kindergarten inmitten der Tristesse beliebt. Im Büro der
Direktorin, in den hellen Schlaf - und Spielräumen, überall hängen farbenfrohe
Kinderzeichnungen, die Preise bekamen, manche sogar im Ausland. Ein Motiv kehrt
stets wieder: Fröhliche Menschen mit dunkler Hautfarbe und pechschwarzen Haaren
stehen vor schmucken Häuschen und halten Kinder an der Hand.
Besuche haben die Kinder gern. Manche wollen zeigen, was sie gelernt haben: Tanzen, Basteln, mit dem Besteck essen. Ein Auto und ein Motorrad möchten sie einmal besitzen, kichern vier kleine Jungs, eine Fotokamera wäre auch nicht schlecht. Die fünfjährige Sofia erzählt schüchtern, dass sie später Köchin werden wird. Dann könne sie immer so gut essen wie hier. Das Mädchen trägt einen schmutzigen Pulli und ist stark verschnupft. "Viele Eltern schicken uns ihre Kinder, obwohl diese krank sind. Sie wissen, dass wir hier Heizung, warmes Wasser und saubere Toiletten haben", sagt Anna Mandulova. Die energische, blonde Frau ist stolz auf den guten Ruf des Kindergartens. Von den 130 Kindern, sagt sie, könnte etwa die Hälfte einen Fachabschluss schaffen, ein Viertel womöglich sogar das Abitur.
Die
Realität sieht jedoch anders aus. Nur jedes fünfte Kind von Lunik IX beendet
die Grundschule, die meisten landen mit zwölf, dreizehn Jahren auf der Straße
und werden kurze Zeit später Sozialhilfeempfänger. Täglich trifft sie auf dem
Weg in die Arbeit Jugendliche, die aus Plastiktüten Toluen schnüffeln. Das Stigma ihrer Herkunft werden auch diejenigen nicht los, die aus
der Siedlung herauskommen. Die Kindergärtnerin erzählt die Geschichte von Adam
Rybar, einem ihrer ehemaligen Schützlinge. Für seine Bilder gewann Adam viele Preise,
sogar in Japan fanden sie Beachtung. Auf Wunsch seiner Eltern besucht der sensible Junge eine
Grundschule in der Stadt, eine, in der es außer ihn keine Roma-Kinder gibt.
Anna Mandulova hat sich nach ihm erkundigt. "Er sitzt in der
Klasse allein", sagt sie. Sie hofft, dass er trotzdem durchhält
und ihm das Schicksal vieler Lunik IX-Kinder erspart bleibt. Wie das von Erik.
Der Zehnjährige kauert draußen an der Hausmauer hinter der Mühlhalde, neben ihm
sein Freund, ein schwarzer Hund. Viele Menschen aus der Stadt, erzählt Dezider
Gazo, setzen ihre Haustiere am Rande der Siedlung aus. Das
ehemalige Bürgerwache-Mitglied genießt das Vertrauen der Bewohner, in seiner
Begleitung fühlt man sich sicher. Seine Enkelkinder leben bereits in Belgien.
Es geht ihnen gut, sie gehen bald zur Schule. Deziders Tochter hat Lunik IX
schon vor zwei Jahren verlassen. Auch Erik sollte um diese Zeit in der Schule
sein. Was möchte er einmal werden? Der Junge hebt seine schmalen
Schultern. Egal. Was soll aus ihm schon werden.
Der
slowakische Ministerpräsident Robert Fico, ein Sozialdemokrat, hätte eine
Lösung: Internatsschulen. Er sieht sie als einzige Antwort auf das, wie er sagt,
"Roma-Problem." Nötigenfalls, erklärte er bei einer Diskussion mit
Studenten einer Hochschule im westslowakischen Trnava im Februar 2013, würde er
den Eltern ihre Kinder wegnehmen. "Extreme Situationen erfordern extreme
Lösungen". Die Idee mit den Internatsschulen für die Kinder unbequemer
Minderheiten ist nicht neu. Die USA, Kanada und Australien haben auf diese
Weise einst die Kinder der Ureinwohner der Zwangsassimilation unterworfen und
ihnen ihre kulturelle, sprachliche und ethnische Identität geraubt. Kanada und
Australien haben sich dafür inzwischen offiziell entschuldigt.
"So
weit sind wir schon gekommen. Jetzt wollen sie uns unsere Kinder nehmen",
sagt Tibor Gabor. Er, Dezider und vier weitere Roma halten im Büro des
Stadtteilbürgermeisters Dionyz Slepcik eine
Krisensitzung ab. Der 37-Jährige, ein schweigsamer, ernster Mann mit muskulösen
Oberarmen und tätowierten Händen, will den Krieg mit der Stadt nicht eskalieren
lassen. Eines ist jedoch klar: Die Roma brauchen Arbeit, gültige
Mietverträge, die Stadt müsse ihnen die Schulden erlassen. Stadtrat Gabor will außerdem eine Überprüfung der Statik der
beiden zum Abriss bestimmten Wohnblöcke erwirken. "In manchen Ländern
gehen Menschen auf die Straße, weil ein Baum gefällt werden soll. Uns will man
das Dach über dem Kopf nehmen. Sind wir etwa keine Menschen?“, sagt einer der
Teilnehmer. "Alles wird ohne uns entschieden", meint Gábor. Pavol
Rasi, seit 2010 Bürgermeister von Kosice, habe sich noch nie in Lunik IX
blicken lassen, in den letzten drei Jahren konnte er ihn ein einziges Mal
sprechen. "Das Gespräch dauerte fünf Minuten." Im Büro von Dionýz
Slepcík
stehen zwei Fahnen, die slowakische und
die der EU. Es liegt schon eine gewisse Ironie darin, dass der Bürgermeister
eines Stadtteils, der wie kein anderer zum Symbol des Versagens der
Minderheitenpolitik der EU und des EU-Landes Slowakei wurde, demonstrativ seine
Loyalität bekundet. Dabei fühlen sich die slowakischen Roma nicht nur von der
eigenen Regierung, sondern auch von Brüssel im Stich gelassen. Acht Millionen Euro aus dem EU-Topf für die Verbesserung der
Lebensverhältnisse der Roma hätte Lunik IX bekommen sollen - gesehen hat man
von dem Geld nichts.
Peter
Pollák, der Regierungsbeauftragte für Roma-Angelegenheiten in Bratislava, weiß
das. Die EU-Millionen seien überall im Land verschwunden, kritisiert er. Der
37-Jährige, der in März 2012 als erster Rom ins slowakische Parlament einzog,
nennt zwei Beispiele: Der Bürgermeister einer Kleinstadt ließ aus der
Förderhilfe die Fassade der Schule renovieren, obwohl sie nur von vier
Roma-Kindern besucht wird. In einer anderer Kleinstadt wurde wiederum das
Kopfsteinpflaster auf dem Hauptplatz erneuert - mit der Begründung, dass doch
auch Roma darüber spazieren würden. Mit seinem Team hat der Sozialpädagoge die "Strategie für die Integration der Roma bis 2020"
erarbeitet. Einer ihrer Kernpunkte ist Bildung. Statt Sonderschulen,
Roma-Klassen oder Internatsschulen will er Inklusion. Drei Jahre Kindergarten
und zwölf Jahre Schule sollen künftig Pflicht sein. Die Arbeitgeber sollen
finanzielle Anreize für die Beschäftigung von Roma bekommen, notfalls werden
sie dazu per Gesetz verpflichtet, plant Pollak. Das Parlament zieht bislang
nicht mit, doch der Roma-Beauftragte lässt sich nicht beirren: "22 Jahre
kümmerte sich niemand um die Probleme der Roma. Wir brauchen Zeit und
Gesetze", sagt er.
So lange will Dezider
nicht warten. In Lunik IX endet Europa. Die Taxifahrer weigern sich,
Fahrgäste in die Roma-Siedlung zu fahren, nur eine einzige Buslinie verbindet
den Stadtteil mit dem Zentrum. Ihre Fahrer bekommen einen
"Risiko-Zuschlag." Der Stadtteilbürgermeister des angrenzenden
Stadtviertels Lunik VIII ließ eine zwei Meter hohe Mauer errichten, um seine
Bewohner und den Parkplatz vor den Roma zu schützen. Insgesamt 14 solcher
Anti-Roma-Mauern stehen in der Slowakei, kein Gesetzt verbietet das. Vor ein
paar Wochen haben Unbekannte auf die Mauer in Kosice das Wort
"Prepacte" gesprüht. Auf Slowakisch heißt das: Entschuldigung. Für
Dezider kommt das zu spät. In Belgien warten seine Tochter und acht Enkelkinder
auf ihn. Bis 1990 arbeitete der 60-Jährige in der Stahlindustrie, nach der
Wende wollte ihn keiner mehr beschäftigen, weil er ein Rom ist. In zwei,
spätestens drei Wochen ist er weg. Er hat es eilig. Die Lebenserwartung in
Lunik IX liegt bei durchschnittlich 65 Jahren. Statistisch gesehen, hat Dezider
Gazo nicht mehr viel Zeit.
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