Mittwoch, 31. Dezember 2014

Situation der Roma in Lunik IX, dem größten Roma-Slum Mitteleuropas, Kosice, Slowakei (meine Geburtstadt)

"Interessant, aber für den Leser zu deprimierend", erklärte eine große deutsche Zeitung ihre Absage. An der Situation hat sich seit dem Artikel, den ich 2013 recherchierte, leider nichts geändert. Vertreibung und Diskriminierung der Roma durch die Behörden haben eher zugenommen, es sind noch mehr Häuser abgerissen worden. Eine traurige Neuigkeit gibt es: Der Bürgermeister von Lunik IX, Dionyz Slepcik, hat sich Anfang November 2014 das Leben genommen.

Die Ausgestoßenen

Text und Fotos von Eva Gruberová




Für einen Moment wirkt Tibor Gábor so, als ob auch er jede Hoffnung verloren hätte. „Wir Roma benehmen uns manchmal wie Kinder“, seufzt er und schüttelt den Kopf. Dann legt er wieder los, redet und gestikuliert, doch die Mienen seiner Zuschauer, die sich vor dem Gemeindehaus um ihn herum versammelt haben, bleiben finster. Seit einer halben Stunde versucht der 49-jährige Stadtrat die aufgebrachten Bewohner der Hrebendova Straße 34 und 36 zu einer Protestaktion zu überreden. Anfang des Jahres bekamen sie Briefe von der städtischen Wohnungsgenossenschaft. Sie teilte ihnen mit, dass ihr Wohnblock bis Jahresende abgerissen wird. Die Statik des Gebäudes sei so stark beschädigt, dass es einzustürzen drohe.
Von einer Ersatzunterkunft steht in den Briefen kein Wort. Man müsse etwas unternehmen, bevor es zu spät ist, fordert Gabor und schlägt eine Petition an den Stadtrat vor. Doch seine flehentlichen Worte verhallen. Die Zuhörer reagieren nicht, sie sind verzweifelt. „Wo soll ich jetzt hingehen?“, fragt die 54-jährige Zlatica Husárová und wischt sich die Tränen ab. „Seit 31 Jahren wohne ich hier, meine Tochter bekam erst vor zwei Monaten ein Kind.“ In der Vier-Zimmer-Wohnung von Sona Pohlodková drängen sich auf 70 Quadratmetern 22 Familienmitglieder. „Ich bezahlte stets meine Rechnungen. Warum setzt man mich jetzt auf die Straße?“

Kein Bewohner von Lunik IX, einer heruntergekommenen Plattenbausiedlung am Rande der ostslowakischen Metropole Kosice, zweifelt daran, dass die Stadt ihre Drohung ernst meint. In den vergangenen vier Jahren verschwanden bereits vier Wohnblöcke, in jedem von ihnen lebten mindestens 300 Menschen. Wo sie heute sind, weiß niemand genau. Fest steht, dass auf dem Gebiet der zweitgrößten slowakischen Stadt, die 2013 den Prestige-Titel "Kulturhauptstadt Europas" trug, vierzehn neue Roma-Siedlungen registriert und nach und nach zwangsgeräumt worden sind. Einige Familien verließen das Land, ein Roma-Clan mit 77 Mitgliedern, darunter Kleinkinder, haust seit zwei Jahren in windigen Blechhütten am Fluss neben der Siedlung. Die meisten Obdachlosen quartierten sich in die ohnehin schon überfüllten Wohnungen ihrer Nachbarn ein.

Dezider Gazo hat längst schon den Glauben verloren, dass sich in Lunik IX etwas ändern könnte. Die Hälfte seines Lebens verbrachte der drahtige Mann mit ergrautem Haar hier, kaum jemand kennt sich in dem größten slowakischen Roma-Slum besser aus als er. Die Strategie ist ihm vertraut: Zuerst lässt die Stadtverwaltung, Eigentümerin der meisten Wohnungen, alles verfallen, dann teilen die Beamten den Bewohnern mit, dass sie ausziehen müssen. Bis 2011 gehörte Dezider zur Bürgerwache, die von der Polizei abgelöst wurde. "Wir sorgten für Ordnung, während sie nur da stehen und zusehen, wie ein paar Kriminelle die leerstehenden Wohnungen demolieren, Fenster einschlagen und aus den Treppenhäusern und Balkonen Betonwände mit Stahlträgern herausreißen." Hinter all dem steht ein System, davon ist er überzeugt: "Die Stadt will uns Roma loswerden und Lunik IX liquidieren."
 
Schätzungsweise 7000 Menschen wohnen heute in Lunik IX, drei- bis viermal so viele wie ursprünglich vorgesehen. Sie alle sind Roma und fast alle arbeitslos. Die Miet- und Wasserschulden des berüchtigten Plattenbauviertels, das nur wenige Autominuten südwestlich vom historischen Stadtzentrum liegt, belaufen sich auf mehrere Millionen Euro. In den meisten Wohnungen gibt es weder Strom noch Gas oder Heizung. Wer in Lunik IX Wasser braucht, muss sich draußen in eine Warteschlange einreihen und Eimer mitbringen. Aus der Betonwand jedes Wohnblocks ragt ein Wasserhahn, der morgens um sieben und nachmittags um vier für jeweils eine Stunde aufgedreht wird. Polizisten mit Hunden überwachen das demütigende Prozedere. Wenn jemand verschläft, krank ist oder keine Lust hat, in der Kälte draußen anzustehen, muss er seine Notdurft auf den umliegenden Feldern verrichten.

Es ist eine stinkende Armut.
In der Luft liegt Geruch von verbranntem Gummi, Müll und Hundekot. Aus Fenstern und Löchern in den Hauswänden steigt schwarzer Rauch, der die Betonplatten mit einer dicken Rußschicht überzieht. Die meisten Familien kochen auf einem kleinen Ofen, das Brennmaterial suchen sie sich in den angrenzenden Stadtvierteln zusammen und schieben es in vollbepackten Karren nach Hause. Die Müllcontainer in der Siedlung sind überfüllt, hinter dem Wohnblock in der Hrebendova türmt sich eine Mühlhalde auf. Manche Bewohner werfen ihren Abfall einfach zum Fenster hinaus. In der Nacht kommen die Ratten. 2009 filmte der slowakische Privatsender JOJ ein Heer von Ratten, die überall hervorkrochen und in die Treppenhäuser liefen. Auf YouTube ist das Ratten-Video zu einem Hit geworden, für die Bewohner ist es ein Albtraum: "Unsere Kinder haben abends Angst, ins Bett zu gehen",  erzählt Zlatica Husarova Tibor Gabor, der als einziger Roma im städtischen Parlament sitzt.

"Viele Roma sind selbst schuld an der Misere", räumt Gabor ein. Er kennt die Mentalität der Bewohner, schließlich ist er in Lunik IX aufgewachsen. Kriminalität, Drogen, Alkohol und Wucherei, Begleiterscheinungen eines Lebens in Armut und ohne Perspektive, bestimmen hier den Alltag. Die Hauptschuld sieht er jedoch bei der Stadt. "Manche Bewohner meldeten schon vor 15 Jahren, dass sie kaputte Heizungen und Dächer haben. Eine Antwort bekamen sie nie." Schon vor einem Jahr versuchte der 49-Jährige, die Bewohner aus ihrer Passivität herauszuholen. Mitten im Sommer, der in der Ostslowakei für gewöhnlich sehr heiß ist, drehte die Stadt in ganz Lunik IX das Wasser ab. Die mobilen Wassertanks reichten nicht aus, etwa 20 Kinder erkrankten an Hepatitis, weil sie verschmutztes Wasser aus dem Fluss tranken. Steine flogen durch die Luft, Morddrohungen wurden ausgestoßen, die Polizei musste Verstärkung anfordern. Gabor wollte mit Lunik IX-Bewohnern und leeren Eimern zum Magistratsgebäude marschieren. Aber niemand war dazu bereit.

Eva Dudova, Sozialamtsleiterin der Stadt Kosice, empfängt in ihrem geräumigen Büro im "Weißen Haus". So spottet man über das Magistrat-Gebäude schon seit jener Zeit, als darin noch die Ostslowakische Kommunistische Partei ihren Sitz hatte. Eva Dudova wählt ihre Worte mit Bedacht, die Vizebürgermeisterin hat keine Zeit, der Bürgermeister ist auf einer Dienstreise, so muss sie die "Kulturhauptstadt Europas 2013" allein vertreten. Hat sie Mitleid mit den Roma-Kindern, die in der Hrebendova Straße leben und bald aus ihren Wohnungen vertrieben werden? Die Beamtin blickt erstaunt auf und erzählt dann eine Geschichte: "Vor zwei oder drei Jahren verbrannten in Lunik IX nachts in einer Wohnung Kinder. Daran sieht man, wie sich die Eltern dort um ihre Kinder kümmern." Die meisten Bewohner hätten Miete und Wassergebühren nicht bezahlt, wohnten also illegal, sagt sie. Die Stadt habe daher keine Verpflichtung, für Ersatzunterkünfte zu sorgen. "Die Situation in Lunik IX ist sehr kompliziert."

Warum sie das ist, zeigt ein Blick in die Geschichte. Mitte der 1970er Jahre bauten kommunistische Stadtplaner, die Sozialbausiedlung "ABC": "A" stand für die Armee, "B" für Sicherheit und "C" für Zigeuner, die bis dahin verstreut in der Stadt lebten. Doch Soldaten und Polizisten waren wenig begeistert von den "C-Nachbarn" und zogen bald aus. Geblieben sind Roma, die bislang nur das Leben in primitiven Hütten kannten und mit den engen Wohnungen, Einbauküchen und Spültoiletten wenig anfangen konnten. Doch mit der Zeit lief es nicht schlecht, bis das Jahr 1989 kam. Die Roma waren die ersten, die nach der politischen Wende ihre Arbeit verloren und nie mehr eine gefunden haben.1995 dann noch ein Schlag: Unter dem Vorsitz des damaligen Bürgermeisters und späteren Staatspräsidenten Rudolf Schuster entschied der Stadtrat, dass nach Lunik IX künftig "alle Mietschuldner, Obdachlose und unangepasste Bürger" umgesiedelt werden. Gemeint waren vor allem Roma aus dem historischen Stadtzentrum, das der frühere KP-Chef Schuster gerade für viel Geld restaurieren ließ. Die Zahl der Lunik IX-Bewohner verdoppelte sich, die Arbeitslosigkeit stieg auf die heutigen 98 Prozent. Aus einem sozialen Experiment entwickelte sich eines der größten Armutsghettos Europas.

 Nur einige Straßenbahnhaltestellen vom "Weißen Haus" entfernt pulsiert das urbane Leben. Die "Europäische Kulturhauptstadt 2013" mit ihren 260 000 Einwohnern zeigt sich hier von ihrer schönsten Seite.
 
Die  Fußgängermeile im historischen Zentrum säumen Straßencafés und moderne Geschäfte, barocke Adelspaläste und Bürgerhäuser. Das alles überragt der Elisabeth-Dom, die  größte gotische Kirche des Landes. Bis 1918 gehörte Kosice zu Ungarn, war eine der reichsten Städte des Königreichs. Ungarn, Slowaken, Juden und Tschechen prägten damals die Stadt, die für kurze Zeit sogar die Hauptstadt der Tschechoslowakei war. Am 5. April 1945 verkündete hier Edvard Benes, gerade aus dem Londoner Exil zurückgekehrt, das "Kaschauer Regierungsprogramm." Kosice präsentierte sich oft weltoffener als viele andere Städte im kommunistischen Europa. 1979 unterschrieb der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher mit seinem tschechoslowakischen Kollegen die  Städtepartnerschaft zwischen Kosice und Wuppertal. Doch von dem europäischen Geist, den der hier geborene Schriftsteller Sandor Marai in seinen Romanen beschrieb, blieb nicht viel übrig. 25 Jahre nach der politischen Wende ist jeder Fünfte in der Region arbeitslos.

Stadtzentrum von Kosice, Sommer 2014
Die einst blühende Stadt ist in Vergessenheit geraten - auch der Titel der  "Europäische Kulturhauptstadt" ändert nicht viel daran, obwohl die Stadt ein aufwendiges Kulturprogramm vorbereitet und für die Investitionen 60 Millionen Euro von der EU kassiert hat. Die erhofften Touristenströme blieben aus, in den meisten ausländischen Medienberichten wurde stattdessen über Lunik IX berichtet.

 
Genutzt hat es bislang nicht. 450 000 Roma leben in der Slowakei, einem Land mit 5,4 Millionen Einwohnern. Heute, 25 Jahre nach der politischen Wende, ist die Lage der zweitgrößten Minderheit nach den Ungarn verheerend. Sogar die wenigen, die es in die Mittelschicht schafften, stürzen ab. Die meisten Roma leben im Osten des Landes, in Städten und isolierten Siedlungen, von denen 60 Prozent keine Wasserleitung haben. Jeder zehnte Rom haust in einer Blechhütte oder einem baufälligen Holzhaus. Die Ablehnung der Roma ist in der slowakischen Gesellschaft tief verwurzelt, sie reicht von völliger Gleichgültigkeit über Ausgrenzung und Diskriminierung bis zu offenem Hass. Im Juni 2013 wurden in der ostslowakischen Kleinstadt Moldava nad Bodvou 30 Roma wahllos zusammengeschlagen. Ein sechs Monate altes Baby musste Medienberichten zufolge im Krankenhaus behandelt werden, weil es Tränengas eingeatmet hatte. Der Innenminister Robert Kalinak lobte demonstrativ die Arbeit der Polizei. 2012 gaben 58 Prozent der für Eurobarometer befragten Slowaken an, sie hätten "ein unangenehmes Gefühl" , wenn ihre Kinder zusammen mit Roma-Kindern unterrichtet würden - in keinem anderen EU-Land war die Ablehnung stärker. Die Spaltung der Gesellschaft beginnt im Kindesalter. Nach wie vor werden die Kinder der slowakischen Roma vielerorts in eigene Klassen oder Sonderschulen abgeschoben, kritisieren Menschenrechtsorganisationen.

Das Vorurteil von den "arbeitsscheuen Zigeunern", die das staatliche Sozialsystem ausnutzten, ist landesweit verbreitet. "Freilich gibt es auch solche Roma", sagt Katarina Krajnikova, "das hat jedoch viele Ursachen." Die junge Sozialarbeiterin sitzt zur Mittagspause mit ihren Kollegen in einem fensterlosen Raum im Erdgeschoss des Gemeindehauses von Lunik IX. Ganze sechs Sozialarbeiter beschäftigt die Stadt Kosice in dem sozialen Brennpunkt - für mehr Personal, hatte Eva Dudova am Vortag erklärt, reiche leider das Geld nicht. Die verglaste Bürotür ist verschlossen, von außen schützt sie ein stabiles Eisengitter. Die Siedlung gilt als gefährlich. "Das Leben in Lunik IX bestimmt eine tiefe Resignation", sagt Katarína Krajnikova. "Die Roma haben keine Möglichkeit, ihr Leben zu ändern. Auch wenn man es ihnen nicht offen sagt, sind sie bei der Arbeitssuche im Nachteil, weil sie eine dunkle Hautfarbe haben und in Lunik IX wohnen". Katarina Krajnikova betreut auch die Bewohner eines Wohnblocks, der abgerissen werden soll.  Sie zögert, dann sagt sie, wohlwissend, dass sie damit ihren Arbeitgeber kritisiert: „Es ist nicht gut, wenn Familien, vor allem solche, die kleine Kinder haben, plötzlich auf der Straße stehen. Man sollte ihnen eine Ersatzunterkunft anbieten, wenigstens vorübergehend."



Anna Mandulová arbeitet seit 15 Jahren in Lunik IX. Sie ist die stellvertretende Leiterin des städtischen Kindergartens, einem Renomee-Projekt der Stadt. Der graue Gebäudekomplex, von dessen Fassade der Putz abbröckelt, ähnelt einem Hochsicherheitstrakt. Alle Türe sind verschlossen, die Fenster vergittert, eine Türglocke gibt es nicht. "Ohne diese Sicherheitsmaßnahmen hätten manche Jugendliche längst schon alles demoliert", erklärt die 50-Jährige. Bei den Eltern ist der Kindergarten inmitten der Tristesse beliebt. Im Büro der Direktorin, in den hellen Schlaf - und Spielräumen, überall hängen farbenfrohe Kinderzeichnungen, die Preise bekamen, manche sogar im Ausland. Ein Motiv kehrt stets wieder: Fröhliche Menschen mit dunkler Hautfarbe und pechschwarzen Haaren stehen vor schmucken Häuschen und halten Kinder an der Hand.


Besuche haben die Kinder gern. Manche wollen zeigen, was sie gelernt haben: Tanzen, Basteln, mit dem Besteck essen. Ein Auto und ein Motorrad möchten sie einmal besitzen, kichern vier kleine Jungs, eine Fotokamera wäre auch nicht schlecht. Die fünfjährige Sofia erzählt schüchtern, dass sie später Köchin werden wird. Dann könne sie immer so gut essen wie hier. Das Mädchen trägt einen schmutzigen Pulli und ist stark verschnupft. "Viele Eltern schicken uns ihre Kinder, obwohl diese krank sind. Sie wissen, dass wir hier Heizung, warmes Wasser und saubere Toiletten haben", sagt Anna Mandulova. Die energische, blonde Frau ist stolz auf den guten Ruf des Kindergartens. Von den 130 Kindern, sagt sie, könnte etwa die Hälfte einen Fachabschluss schaffen, ein Viertel womöglich sogar das Abitur.

Die Realität sieht jedoch anders aus. Nur jedes fünfte Kind von Lunik IX beendet die Grundschule, die meisten landen mit zwölf, dreizehn Jahren auf der Straße und werden kurze Zeit später Sozialhilfeempfänger. Täglich trifft sie auf dem Weg in die Arbeit Jugendliche, die aus Plastiktüten Toluen schnüffeln. Das Stigma ihrer Herkunft werden auch diejenigen nicht los, die aus der Siedlung herauskommen. Die Kindergärtnerin erzählt die Geschichte von Adam Rybar, einem ihrer ehemaligen Schützlinge. Für seine Bilder gewann Adam viele Preise, sogar in Japan fanden sie Beachtung. Auf Wunsch seiner Eltern besucht der sensible Junge eine Grundschule in der Stadt, eine, in der es außer ihn keine Roma-Kinder gibt. Anna Mandulova hat sich nach ihm erkundigt. "Er sitzt in der Klasse allein", sagt sie. Sie hofft, dass er trotzdem durchhält und ihm das Schicksal vieler Lunik IX-Kinder erspart bleibt. Wie das von Erik. Der Zehnjährige kauert draußen an der Hausmauer hinter der Mühlhalde, neben ihm sein Freund, ein schwarzer Hund. Viele Menschen aus der Stadt, erzählt Dezider Gazo, setzen ihre  Haustiere am Rande der Siedlung aus. Das ehemalige Bürgerwache-Mitglied genießt das Vertrauen der Bewohner, in seiner Begleitung fühlt man sich sicher. Seine Enkelkinder leben bereits in Belgien. Es geht ihnen gut, sie gehen bald zur Schule. Deziders Tochter hat Lunik IX schon vor zwei Jahren verlassen. Auch Erik sollte um diese Zeit in der Schule sein. Was möchte er einmal werden? Der Junge hebt seine schmalen Schultern. Egal. Was soll aus ihm schon werden.
Ein berührender Anblick: Erik mit seinem Hund


Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico, ein Sozialdemokrat, hätte eine Lösung: Internatsschulen. Er sieht sie als einzige Antwort auf das, wie er sagt, "Roma-Problem." Nötigenfalls, erklärte er bei einer Diskussion mit Studenten einer Hochschule im westslowakischen Trnava im Februar 2013, würde er den Eltern ihre Kinder wegnehmen. "Extreme Situationen erfordern extreme Lösungen". Die Idee mit den Internatsschulen für die Kinder unbequemer Minderheiten ist nicht neu. Die USA, Kanada und Australien haben auf diese Weise einst die Kinder der Ureinwohner der Zwangsassimilation unterworfen und ihnen ihre kulturelle, sprachliche und ethnische Identität geraubt. Kanada und Australien haben sich dafür inzwischen offiziell entschuldigt.

"So weit sind wir schon gekommen. Jetzt wollen sie uns unsere Kinder nehmen", sagt Tibor Gabor. Er, Dezider und vier weitere Roma halten im Büro des Stadtteilbürgermeisters Dionyz Slepcik eine Krisensitzung ab. Der 37-Jährige, ein schweigsamer, ernster Mann mit muskulösen Oberarmen und tätowierten Händen, will den Krieg mit der Stadt nicht eskalieren lassen. Eines ist jedoch klar: Die Roma brauchen Arbeit, gültige Mietverträge, die Stadt müsse ihnen die Schulden erlassen. Stadtrat Gabor will außerdem eine Überprüfung der Statik der beiden zum Abriss bestimmten Wohnblöcke erwirken. "In manchen Ländern gehen Menschen auf die Straße, weil ein Baum gefällt werden soll. Uns will man das Dach über dem Kopf nehmen. Sind wir etwa keine Menschen?“, sagt einer der Teilnehmer. "Alles wird ohne uns entschieden", meint Gábor. Pavol Rasi, seit 2010 Bürgermeister von Kosice, habe sich noch nie in Lunik IX blicken lassen, in den letzten drei Jahren konnte er ihn ein einziges Mal sprechen. "Das Gespräch dauerte fünf Minuten." Im Büro von Dionýz Slepcík stehen zwei Fahnen,  die slowakische und die der EU. Es liegt schon eine gewisse Ironie darin, dass der Bürgermeister eines Stadtteils, der wie kein anderer zum Symbol des Versagens der Minderheitenpolitik der EU und des EU-Landes Slowakei wurde, demonstrativ seine Loyalität bekundet. Dabei fühlen sich die slowakischen Roma nicht nur von der eigenen Regierung, sondern auch von Brüssel im Stich gelassen. Acht Millionen Euro aus dem EU-Topf für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Roma hätte Lunik IX bekommen sollen - gesehen hat man von dem Geld nichts.

Peter Pollák, der Regierungsbeauftragte für Roma-Angelegenheiten in Bratislava, weiß das. Die EU-Millionen seien überall im Land verschwunden, kritisiert er. Der 37-Jährige, der in März 2012 als erster Rom ins slowakische Parlament einzog, nennt zwei Beispiele: Der Bürgermeister einer Kleinstadt ließ aus der Förderhilfe die Fassade der Schule renovieren, obwohl sie nur von vier Roma-Kindern besucht wird. In einer anderer Kleinstadt wurde wiederum das Kopfsteinpflaster auf dem Hauptplatz erneuert - mit der Begründung, dass doch auch Roma darüber spazieren würden. Mit seinem Team hat der Sozialpädagoge die "Strategie für die Integration der Roma bis 2020" erarbeitet. Einer ihrer Kernpunkte ist Bildung. Statt Sonderschulen, Roma-Klassen oder Internatsschulen will er Inklusion. Drei Jahre Kindergarten und zwölf Jahre Schule sollen künftig Pflicht sein. Die Arbeitgeber sollen finanzielle Anreize für die Beschäftigung von Roma bekommen, notfalls werden sie dazu per Gesetz verpflichtet, plant Pollak. Das Parlament zieht bislang nicht mit, doch der Roma-Beauftragte lässt sich nicht beirren: "22 Jahre kümmerte sich niemand um die Probleme der Roma. Wir brauchen Zeit und Gesetze", sagt er.

So lange will Dezider nicht warten. In Lunik IX endet Europa. Die Taxifahrer weigern sich, Fahrgäste in die Roma-Siedlung zu fahren, nur eine einzige Buslinie verbindet den Stadtteil mit dem Zentrum. Ihre Fahrer bekommen einen "Risiko-Zuschlag." Der Stadtteilbürgermeister des angrenzenden Stadtviertels Lunik VIII ließ eine zwei Meter hohe Mauer errichten, um seine Bewohner und den Parkplatz vor den Roma zu schützen. Insgesamt 14 solcher Anti-Roma-Mauern stehen in der Slowakei, kein Gesetzt verbietet das. Vor ein paar Wochen haben Unbekannte auf die Mauer in Kosice das Wort "Prepacte" gesprüht. Auf Slowakisch heißt das: Entschuldigung. Für Dezider kommt das zu spät. In Belgien warten seine Tochter und acht Enkelkinder auf ihn. Bis 1990 arbeitete der 60-Jährige in der Stahlindustrie, nach der Wende wollte ihn keiner mehr beschäftigen, weil er ein Rom ist. In zwei, spätestens drei Wochen ist er weg. Er hat es eilig. Die Lebenserwartung in Lunik IX liegt bei durchschnittlich 65 Jahren. Statistisch gesehen, hat Dezider Gazo nicht mehr viel Zeit.